Nach längerer Pause, in welcher ich den ganzen schriftlichen Nachlass meines 1942 im Raum Demjansk gefallenen Bruders gesichtet habe, möchte ich mich heute erneut zu Wort melden, möglicherweise letzmalig.
Vor allem möchte ich mich, der ich selbst nie eine Waffe in die Hand zu nehmen brauchte, bedanken für manchen nützlichen und, wie ich es empfinde, kameradschaftlichen Hinweis, den ich in diesem Forum erhalten habe. Ich hätte hier sicher noch viel mehr erfahren können, doch dafür fehlt bei mir die Zeit.
Die hinterlassenen Dokumente, Briefe aus den Kriegsjahren 1940 bis 1943 - in der Mehrzahl von meinem Bruder Hans Jürgen selbst, zum Teil aber auch an bzw. über ihn - sind für mich zu einem authentischen Zeitfenster in eine Epoche geworden, die ich zwar selber noch als Kind miterlebt habe, deren Erinnerung mir dann aber durch die weitere politische Entwicklung in der Nachkriegszeit verschüttet worden war. Durch die Beschäftigung mit diesen Zeitdokumenten glaube ich die damalige Situation unserer Soldaten ein wenig gerechter zu beurteilen gelernt zu haben. Zwei Lehren erscheinen mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig:
1. Es war Krieg. Jegliches Moralisieren über die rücksichtslose Härte der Kampfhandlungen verbietet sich. Der Soldat im Felde untersteht anderen Normen als sie in der bürgerlichen Gesellschaft gelten.
2. Angesichts der furchtbaren Entbehrungen, die unsere Soldaten im Kessel von Demjansk infolge Hunger, Frost und mangelhafter Postverbindung mit der Heimat durchmachen mussten, verdienen ihr Ethos und ihr Idealismus höchsten Respekt – sie sind Menschen geblieben! Nachstehend ein schlichter Beleg, den mein Bruder selbst hierfür geliefert hat (Tagebuchaufzeichnung 01.04.42):
Kalt blies der Wind über Waldai’s Höh’n,
Trieb mir den Schnee ins Gesicht.
So scharf die Augen auch mochten späh‘n,
Sie drangen hinüber nicht.
Es lauschte im Sturme das Ohr gebannt.
Die Finsternis hüllte mich ein.
Nur selten durchbrach die pechdunkle Wand
Der Leuchtkugel milchiger Schein.
In solchen Stunden erschien mir ein Bild,
Heut‘ denk‘ ich daran zurück,
In tobender Finsternis, lieblich und mild,
Ein Bild voll Wärme und Glück.
Im häuslichen Kreis die Familie vereint,
die Gesichter zufrieden und froh,
die Stube traut, die Lampe scheint.
Dies Bild erschien mir so.
Und es linderte mir der Stunden Qual,
oft nur Sekunden gesehn,
der Winternächte ohne Zahl,
die ich durchwacht auf den Waldai-Höh’n.
De mortuis nil nisi bene - Über die Toten (sprich) nur gut.
Christian Scheven